Unite-Chef im Gespräch :
„Der klassische Rahmenvertrag ist tot“

Lesezeit: 5 Min.
Sebastian Wieser traut Unite zu, auf seinem Geschäftsfeld ein europäischer Champion zu werden. Vor allem in England gab es zuletzt Fortschritte.
Immer mehr Behörden regeln ihren Einkauf über die Handelsplattform von Unite. Dabei haben deren Chef vor ein paar Jahren selbst die eigenen Mitarbeiter für verrückt gehalten – bis der Ukrainekrieg die Weltwirtschaft auf den Kopf stellte.

Als Sebastian Wieser im Jahr 2012 zusammen mit seinem Ko-Vorstandschef das gut laufende Geschäftsmodell seines Unternehmens komplett umkrempeln will, halten ihn die meisten für ziemlich verrückt – einschließlich der eigenen Mitarbeiter. „Wir haben damals einiges an Marge mit bestehenden Kunden verloren“, erinnert sich Wieser. Was war geschehen?

Wieser gründete im Jahr 2000 mit vier Kollegen der Unternehmensberatung McKinsey den Onlinemarktplatz Mercateo, der seit zwei Jahren Unite heißt. Einkäufer aus Unternehmen sollten über das Internet einfach Produkte für den Büroalltag kaufen können. Insbesondere Nischenprodukte, die Unternehmen nur in geringem Umfang benötigen, bestellen Einkäufer gerne digital über solche Plattformen. Ein zeitaufwendiger Preisvergleich würde sich für die verhältnismäßig kleinen Warenkörbe von 200 oder 300 Euro schlicht nicht lohnen. Deshalb interessiert es die Unternehmen auch kaum, dass Wiesers Unternehmen enorme Margen verlangen kann.

Der Marktplatz ist nach knapp fünf Jahren profitabel. Doch Wieser will mehr. „Ich hätte damals gewinnbringend verkaufen können, aber da hatte ich keinen Bock drauf“, sagt er. „Was soll ich mit dem Geld, wenn ich montags nichts mit mir anzufangen weiß?“ Also entwickelt er das Unternehmen weiter, will nicht nur eine Plattform für kleine Mengen an Nischenprodukten anbieten, sondern auch für den Einkauf von unternehmensentscheidender Ware im großen Stil. Dafür braucht es Vertrauen, ist Wieser überzeugt. Er will ein Netzwerk aufbauen, in dem Kunden und Anbieter sich untereinander austauschen. Dafür bittet er Kunden, bisher analoge Geschäftsbeziehungen über die Plattform abzuwickeln, und verzichtet dafür auf Provision. Zudem schwächt das neue Modell das eigentlich gut laufende Marktplatzgeschäft. „Nicht wenige haben sich gefragt, ob wir total irre geworden sind.“

Fast zehn Jahre „dümpelte das Modell vor sich hin“

2012 führt Wiesner für dieses Netzwerkmodell ein Auktionssystem ein, ähnlich dem des Onlinegebrauchtwarenhändlers Ebay. Kunden stellen ihren gewünschten Warenkorb in das System. Anbieter können einen Maximalpreis angeben, mit dem sie bei einer Auktion starten, und einen Minimalpreis, bis zu dem sie gehen. Dieser ist den Einkäufern nicht bekannt. Die Software hinter dem Marktplatz sorgt dafür, dass Wettbewerber bis zum Minimalpreis immer um einen Cent unterboten werden. Der Warenkorb wird von einem Algorithmus für die Einkäufer dann voll automatisiert möglichst günstig zusammengestellt, je nach Verfügbarkeit auch über verschiedene Anbieter. Unite kauft die Bestellung dann für eine Sekunde, bevor sie an den Kunden weitergeht.

Unite ist nicht nur am Hauptsitz in Leipzig enorm gewachsen. Inzwischen hat das Unternehmen an all seinen Standorten rund 700 Beschäftigte.
Unite ist nicht nur am Hauptsitz in Leipzig enorm gewachsen. Inzwischen hat das Unternehmen an all seinen Standorten rund 700 Beschäftigte.Tom Wesse

Dabei entscheidet nicht nur der Preis, sondern auch andere Präferenzen. Einkäufer können einstellen, welchen Wert sie der Lieferzeit oder Nachhaltigkeitskriterien beimessen wollen. So kann eine Auktion auch an den Anbieter gehen, der vielleicht zwei Prozent teurer war, dafür aber eine Frau in der Geschäftsführung hat, sofern das vom Einkäufer gewünscht ist. „Das macht zum Beispiel Nachhaltigkeit ökonomisch quantifizierbar und strategisch aussteuerbar“, sagt Wieser. Nun könne auf oberster Ebene entschieden werden, für gewisse Nachhaltigkeitskriterien zum Beispiel zwei Prozent mehr zu zahlen. Da Kunden und Anbieter nach der Auktion eine detaillierte Auswertung erhalten, warum der Konkurrent und nicht sie den Auftrag erhalten haben, wäre das für Anbieter ein Anreiz, in Nachhaltigkeit zu investieren. „Wenn ein Unternehmen sieht, sie können mit nachhaltigeren Produkten mehr verdienen, erleichtert das Investitionen“, sagt Wieser.

Seine Begeisterung für das Geschäftsmodell ist kaum zu übersehen oder zu überhören. Er gestikuliert wild, seine Stimme überschlägt sich fast, wenn er die Vorzüge der Idee aufzählt. Doch zunächst „dümpelte das neue Modell lange vor sich hin“, sagt er. Und zwar zehn lange Jahre. Fast alles, was Unite mit dem Marktplatz erwirtschaftet, ­stecken Wieser und seine Vorstands­kollegen in das neue Netzwerkmodell. „Das war eine ganz schwierige Phase.“ Nur knapp drei Prozent des Geschäfts hätten sich über das Netzwerk abgespielt – bis sich im vergangenen Jahr alles änderte.

Zeichen setzen in England

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine habe den Markt komplett umgekrempelt. Die explodierenden Preise hätten die jahrzehntelang aufgebauten Beziehungen zwischen Kunden und Lieferanten zerbrechen lassen, weil Lieferanten die auf mehrere Jahre festgeschriebenen Preisvereinbarungen nicht mehr halten konnten. „Anbieter haben Juristen beauftragt, um über Jahrzehnte verhandelte Rahmenvertragsbeziehungen mit Kunden aufzubrechen.“ Er ist überzeugt, dass das auch nicht wieder kommen wird. „Der klassische Rahmenvertrag ist tot.“ Unternehmen müssten sich mit dem Gedanken anfreunden, dass Preisschwankungen in Zukunft dazugehören – auch wegen personeller Knappheiten aufgrund der in Rente gehenden Babyboomer. „Bei Aktien haben wir akzeptiert, dass die Kurse sich jeden Tag ändern. Dass die ganze Welt so schwanken kann wie die Aktienkurse, aber noch nicht.“

Er sieht deshalb sein datengetriebenes Auktionsmodell im Vorteil: „Wenn statt dreijährigen Rahmenverträgen jeder Warenkorb einzeln ausgeschrieben werden muss, geht das nur digitalisiert.“ Kriterien zur Vergleichbarkeit von Produkten könnten aus zeitlichen Gründen nicht mehr manuell in einem Excel-Dokument festgehalten und zwischen verschiedenen Lieferanten abgeglichen werden. Solche Daten will stattdessen Wieser den Kunden automatisiert liefern. Noch laufen allerdings rund 90 Prozent des Geschäfts auf dem klassischen Marktplatz ab.

„Der öffentliche Einkauf ist eine historische Chance für uns“

Wieser ist aber überzeugt, dass Europa im Onlinehandel zwischen Unternehmen das schaffen kann, was im Onlinehandel mit Endkunden nicht gelungen ist: mit den großen Techkonzernen aus den Vereinigten Staaten mitzuhalten, sie gar zu überholen. Das Geschäft sei deutlich komplexer als der Onlinehandel mit normalen Konsumenten, verlange mehr Kontakt und Beziehungen zwischen Einkäufern und Anbietern. Er hat ehrgeizige Ziele, sieht sich bestens gerüstet, ein „europäischer Champion“ zu werden. „Wir wollen uns auf diesem Geschäftsfeld mit unseren europäischen Werten durchsetzen.“ Dazu gehöre auch, dass Verkäufer nicht sich gegen Geld besserstellen könnten oder von eigenen Produkten des Marktplatzanbieters Konkurrenz bekämen.

Zumindest in England hat Unite dafür zuletzt ein Zeichen gesetzt. Dem Unternehmen gelang es, den Auftrag des dortigen Innenministeriums zu gewinnen. Seitdem läuft der Einkauf der britischen Beamten über die Plattform von Wieser. Aus der Branche ist zu hören, dass auch Amazon mitgeboten hatte. Auch in Deutschland will Unite verstärkt den Einkauf von Behörden und anderen staatlichen Institutionen übernehmen und tut das teils auch schon. Zehn Prozent des Umsatzes stammen von Behörden, Rathäusern, Krankenhäusern oder ähnlichen Kunden. „Der öffentliche Einkauf ist eine historische Chance für uns“, sagt Wieser.

Doch noch dürfen Behörden eigentlich nur bis zu einem gewissen Schwellenwert bei Plattformen wie Unite bestellen. Wieser arbeitet zusammen mit Juristen daran, dass auch öffentliche Einkäufer größere Warenkörbe bei ihm bestellen dürfen.

Das Unternehmen & der Unternehmer

Unite wurde im Jahr 2000 unter dem Namen Mercateo von fünf McKinsey-Beratern gegründet. Der Onlinemarktplatz verbindet Einkäufer aus Unternehmen mit Anbietern. Noch im Gründungsjahr übernahm der Energieversorger Eon das Unternehmen. 2003 kauften die Gründer Sebastian Wieser und Peter Ledermann Mercateo im Rahmen eines Management-Buy-outs zurück. Der Hauptsitz von Unite befindet sich in Leipzig. Das Unternehmen ist inzwischen in 15 europäischen Ländern aktiv und beschäftigt mehr als 700 Mitarbeiter. Im Jahr 2021 erzielte das Unternehmen einen Umsatz von 406 Millionen Euro.

Der gebürtige Wiener Sebastian Wieser hat in seiner Heimatstadt Technische Physik studiert und darin auch promoviert. Nach dem Studium arbeitete er zunächst im Management eines IT-Unternehmens und dann bei der Unternehmensberatung McKinsey, wo er vor allem große Kunden aus dem Finanzsektor zu ihrer IT-Strategie beriet. Im Jahr 2000 gründete er mit vier McKinsey-Kollegen Unite, das damals noch Mercateo hieß. Wieser gilt unternehmensintern als der kreative Kopf und ist im Vorstand als Vorsitzender für die strategische Ausrichtung des Unternehmens verantwortlich. Er ist Vater von fünf Kindern.